Zeitzeugen des Siedlungsbaus: Verdichten und erhalten
Siedlungen aus der Nachkriegszeit stehen im Fokus. In den Städten soll mehr Wohnraum entstehen, das stellt alte Strukturen zunehmend in Frage. Stefan Kurath und Simon Mühlebach vom Institut Urban Landscape der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) haben den Umgang mit Zeitzeugen des Siedlungsbaus untersucht.
Die gesellschaftspolitische Forderung nach einer Entwicklung nach Innen rückt Siedlungen der Nachkriegszeit in den Mittelpunkt. Aufgrund ihres Alters sind sie sanierungsbedürftig und ihre Wohnungsgrundrisse entsprechen nicht mehr heutigen Wohnbedürfnissen. Ersatzneubauten sind auf den ersten Blick naheliegend. Gleichzeitig verlockt der hohe Grünanteil zu Verdichtungsmassnahmen in den Zwischen- und Erschliessungsräumen. Grössere Grundstücksflächen gehören zumeist ein und demselben Bauträger. Auch wenn die Bedeutung der Siedlungen als Zeitzeugen inzwischen erkannt wurde, sind sie teilweise noch nicht in Inventaren des Denkmalschutzes erfasst.
Warum sanieren?
Für einen behutsameren Umgang sprechen mehrere Argumente. Zum einen sind die Siedlungsstrukturen von sozialgeschichtlicher und baukultureller Bedeutung, also wichtige Zeugen damaliger städtebaulicher Überlegungen und Wohnungsbauförderung auf der grünen Wiese, zumeist am damaligen Stadtrand. In ihrer Dimension und Qualität sind die Siedlungen und Quartiere ebenbürtig mit anderen Stadterweiterungen, wie denjenigen des 19. Jahrhunderts. Insbesondere die Freiraumstruktur und Landschaftsbaukunst hatte damals einen wichtigen Stellenwert und galt als Garant für Wohnqualität – diese nun heute zu bebauen, kann das gesamte Raumerlebnis und die Freiraumqualität empfindlich stören. Gegen Ersatzneubauten spricht, dass diese trotz grösserer Baumasse pro Fläche oft weniger Wohnungen aufweisen als vorher, da die Anforderungen an Wohnfläche pro Person deutlich gestiegen sind. Ebenfalls hat eine Ersatzbaulösung oftmals zur Folge, dass Bewohnerinnen und Bewohner gezwungen werden, ihr Quartier zu verlassen, da sie aufgrund mangelnder Etappierung in der Siedlung keinen Ersatz finden oder sich die neuen Wohnungen nicht mehr leisten können.
Aufgrund dieser Überlegungen ist es naheliegend, nach Verdichtungsstrategien zu suchen, die das Gleichgewicht zwischen Verdichtung und Sanierung anstreben –zugunsten eines Erhalts baukultureller Errungenschaften als Erinnerungswert. Dazu haben wir am Institut Urban Landscape im Rahmen eines von der Stiftung zur Förderung der Denkmalpflege geförderten Forschungsprojekts unterschiedliche Wohnsiedlungen in der Schweiz und in Deutschland in Bezug zum Balanceakt zwischen Erhalt und Verdichtung untersucht (siehe Publikation dazu: Anke Domschky, Stefan Kurath, Simon Mühlebach, Urs Primas, Stadtlandschaften verdichten. Strategien zur Erneuerung des baukulturellen Erbes der Nachkriegszeit, Triest Verlag, Zürich 2018)
Dabei zeigt sich, dass bei Siedlungsstrukturen der Nachkriegszeit Verdichtungspotenzial auch dann besteht, wenn man das baukulturelle Erbe berücksichtigt.
Erfolgsversprechende Strategien
Zwei städtebauliche Entwurfsstrategien haben sich in der Vergangenheit besonders bewährt. Zum einen führt das Aufdecken von Schwächen in der Regel zu Eingriffen, die zu einer Klärung und Stärkung der ursprünglichen städtebaulichen Konzeption beitragen. Das betrifft strukturelle, typologische und gestalterische Aspekte, insbesondere auch an den zumeist im Laufe der Zeit überformten Rändern der Siedlungen. Hier sind Ersatzneubauten oder Erweiterungsbauten durchaus denkbar, während die sensibleren Siedlungsbestandteile und Freiräume saniert werden. Zum anderen erweist sich ein Sanieren, Ergänzen und Weiterbauen der inhärenten strukturellen Logik des Bestandes ebenfalls als zielführend. Eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg bildet dabei die Sensibilisierung aller an der Planung beteiligten Personen für das Thema. Eine möglichst frühe und intensive Zusammenarbeit zwischen Bauherrschaft, Architekten, Landschaftsarchitekten, Denkmal- und Gartendenkmalpflege ist dabei unabdingbar. Ebenfalls hat sich gezeigt, dass sich besonders Wettbewerbsverfahren eignen, um die Bandbreite der Verdichtungsmöglichkeiten auszuloten, wenn das Ziel ist, die für alle Beteiligten beste und nicht die erstbeste Lösung umzusetzen. Der Aufwand lohnt, denn eine Berücksichtigung des baukulturellen Erbes – ganz unabhängig von der Schutzwürdigkeit einer Siedlung – verhilft den Siedlungen zu mehr baukultureller, städtebaulicher und atmosphärischer Substanz und damit zu grösserer Wohn- und Aufenthaltsqualität. Dies liegt im Interesse von Bewohnern, Eigentümern, Verwaltern und Investoren.
Prof. Dr. Stefan Kurath ist Architekt und Urbanist. Er studierte Architektur in der Schweiz und den Niederlanden und promovierte an der HafenCity Universität in Hamburg. Er führt ein eigenes Architekturbüro, urbaNplus, in Zürich in enger Zusammenarbeit mit Ivano Iseppi in Graubünden. Als Professor für „Architektur und Entwurf“ leitet er zusammen mit Regula Iseli das Institut Urban Landscape am Departement Architektur, Gestaltung und Bauingenieurwesen der ZHAW.
Simon Mühlebach, MSc ETH Arch, studierte Architektur an der ETH Zürich. Er ist Partner des Architekturbüros Bach Mühle Fuchs in Zürich und Mitarbeiter bei der kantonalen Denkmalpflege Basel-Stadt. Daneben hat er die Projektleitung für die Forschungsarbeit „Verdichtung von Siedlungsstrukturen der Nachkriegszeit“ am Institut Urban Landscape an der ZHAW.
Dieser Fachartikel ist dem Magazin SCALE Ausgabe 1/21 der Jansen AG entnommen (https://scale.jansen.com/)